LOOKING BACK, OVER MY SHOULDER – DAS ERSTE BERLINALE-WOCHENENDE IM ZEITRAFFER I: DONNERSTAG/FREITAG

Es ist Februar, es ist knackig kalt und die Scheinwerfer erleuchten einen roten Teppich, auf dem sich Stars und besonders am Eröffnungsabend Sternchen tapfer den Hintern abfrieren. Derweil stehen sich in den Potsdamer Platz Arkaden die Kinowütigen die Beine in den Bauch, um ihre Tickets zu holen. Touristen machen Fotos mit roten Bärchen, die Menge kreischt, Tony Leung ist vorgefahren, an seiner Seite atemberaubend schön: Zhang Ziyi. Wer hätte gedacht, dass die beiden so eine laute Fangemeinde in Deutschland haben?

www.berlinale.de/de/das_festival/im_fokus/videostreaming

Die Tickets in der Tasche starte ich stilecht am nächsten Tag mit dem Beginn des Wettbewerbs im Berlinale Palast. Die Auflagen werden immer strenger, jetzt darf gar nichts mehr mit in den Saal. Das einzige, was jeder noch in der Hosentasche hatte, ist das multimediale Smartphone. So ein Ärger, sollte doch ausgerechnet das mit akribischem Taschenverbot verhindert werden.
Wir sehen W IMIE (In the name of), der polnische Wettbewerbsbeitrag um einen Priester, der schwererziehbaren Jungs auf dem Land eine Chance gibt. Dabei holen ihn seine homosexuellen Neigungen ein. Der Priester ist sehr sympathisch, die Jungs leider gar nicht und das Thema ist auch nicht gerade neu. Erfrischend jedoch ist es, dass sein Schwulsein über weite Teile des Films unwichtig ist und gar nicht thematisiert wird, sein genereller Konflikt mit dem Leben als Priester und dem damit verbundenen Verbot, einfach nur Mensch sein zu dürfen, tritt in den Vordergrund und damit sticht er dann doch heraus aus dem üblichen Klischee-Film zum Thema.

Weiter geht’s mit I KORI (The Daughter). Der Beitrag im Forum zur Griechenlandkrise. Eine Tochter (14) entführt den 9jährigen Sohn vom Chef ihres Vaters, weil der ihn nicht mehr bezahlen kann. Aufschlussreich und bedrückend zeigt der Film, dass die Bilder, die wir aus den Nachrichten kennen, auch eine andere, leidvolle Seite haben. Der Chef kann den Vater nicht bezahlen, weil er selbst kein Geld mehr von anderen Firmen bekommt. Der Vater kann die Rechnungen und die Miete nicht mehr bezahlen. Also erpresst die Tochter den Chef und sucht in Verzweiflung und Unwissen den Sündenbock im kleinen Jungen, den sie gefangen hält und zunehmend quält. Leider gipfelt das ganze in einem nicht nachvollziehbaren und unnötigen Showdown. Auch zahlreiche Ungenauigkeiten und Widersprüche nehmen dem Film nach einem starken Start leider seine Glaubwürdigkeit.

In der Spätvorstellung schließlich EXPOSED. Undergroundfilmerin Beth B aus New York legt im Panorama eine Dokumentation über die Neo-Burlesque-Szene des Big Apple hin. Als Ein-Mann-Produktion aufgezogen und deswegen in pixeligen, zum Teil schockierenden Bildern zeigt sie charmante Freaks mit Herz und Verstand, die Abend für Abend ihre Körper, die keinerlei Schönheitsideal entsprechen, bis zum Exzess zur Schau stellen. Politisch, grotesk und verstörend bewegen sie sich jenseits allen Mainstream-Striptease, der heute ach so gesellschaftsfähig ist und sie sind es nicht! Eine Doku für starke Nerven, die den Horizont definitiv erweitert und so schnell nicht wieder vergessen wird.

www.newburlesquefilm.com

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