LOOKING BACK, OVER MY SHOULDER – DAS ERSTE BERLINALE-WOCHENENDE IM ZEITRAFFER III: SONNTAG

Nach etwa fünf Stunden Schlaf finden sich die Zuschauer mit Kaffeebechern und blassem Taint zu LOVELACE im Panorama ein. Kryptisch wird angedeutet, dass einige Darsteller erwartet werden. Was als Komödie über den ersten Porno der Pop-Kultur, dessen unglaublichen Erfolg und die sexuelle Revolution beginnt, wird zur Lebensgeschichte der Hauptdarstellerin von DEEP THROAT und auf halber Strecke durch einen gekonnten Perspektivwechsel zum schrecklichen Martyrium einer jungen Frau. Ein clever geschriebenes Drehbuch, mit einem für ein Biopic sehr ungewöhnlichen Aufbau, und die beeindruckende Performance von Amanda Seyfried als Linda Lovelace/Marchiano lassen jeden im Saal plötzlich hellwach zuschauen. Bis in die kleinste Nebenrolle prominent besetzt – unglaublich gut und fast nicht zu erkennen Sharon Stone als Lindas Mutter – ist der Film Zeugnis eines Verbrechens und einer Zeit, die so abartig verknöchert ist, dass man selten so froh war, im Hier und Jetzt leben zu dürfen. Ob gänzlich wahr oder nicht, wird man wohl nie erfahren. In jedem Fall überrascht LOVELACE nicht nur mit einer vollkommen unerwarteten Geschichte, sondern auch mit unerwartet guten schauspielerischen Leistungen und einer sehr gekonnten Mischung aus Witz und Tragik, wie sie selten gepaart wurde und deren Wirkung ungemein überzeugt.
Nach dem Film öffnet sich die Tür neben der Leinwand, Peter Sarsgaard und Amanda Seyfried betreten unangekündigt und irgendwie unsicher die Bühne. Ein klein wenig arrogant wirkt vor allem sie zunächst, doch das verliert sich sogleich im Gespräch. Etwa acht Sekunden habe sie gebraucht, für die Entscheidung, diese ungewöhnliche Rolle anzunehmen. Das macht sie sympathisch, und mutig. Und noch eine kleine Überraschung am Ende: der Regisseur Rob Epstein antwortet auf Nachfrage, dass tatsächlich Geld des Erlöses an die Familie von Linda Marchiano geht. Chapeau, für so viel Wiedergutmachung, auf der Leinwand und im Leben. Hoffentlich findet der Film sein Publikum, er hat es verdient. Und sie auch.

Nachmittags ein bisschen Retrospektive zur Entspannung. Das Zeughauskino, wie immer mäßig besucht, aber eine große Gelegenheit Seltenes zu sehen.

Abends dann der neue Film von Shane Carruth (PRIMER). Die Synopse verspricht Zombies in der Möbiusschleife. Was das Publikum von UPSTREAM COLOR kriegt, sind wirre Bilder als Konfetti. Eine Frau wird mittels einer Made manipuliert und ferngesteuert. Irgendwie ist das ganze Unterfangen an ein Schwein gekoppelt. Sie vermacht alle wertvollen Besitztümer demjenigen, der sie steuert und kommt schließlich wieder zu sich, trifft einen Mann, dem das gleiche passiert ist. Ab da sind es nur noch Bilder, wenig bis gar kein Dialog, Schweine, Steine, Maden, Papierkringel. Und das alles in der Spätvorstellung. Das letzte Drittel verschläft ein Großteil des Publikums. Im anschließenden Q&A teilt sich die Menge in bekennende und zutiefst faszinierte Carruth-Fans und solche, die kopfschüttelnd fragen, wo die Zombies waren.

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